25.08.07
Italienische Mafia zieht sich hierher nicht zurück, sondern entfaltet sichVon Tom MustrophIn der Nacht zum 15. August waren nahe des Duisburger Hauptbahnhofes sechs Italiener Opfer einer Mafiafehde geworden. Die Ermittlungen sollen laut deutscher und italienischer Behörden auf Hochtouren laufen. Allerdings erfolglos, und neue Bluttaten werden befürchtet.
Wenige Tage vor dem Mord in Duisburg hatten die kalabresischen Carabinieri ein dickes Dossier über die Zuspitzung der Fehde zusammengestellt. 70 Namen von wichtigen \’Ndranghetisti sind dort – als mögliche Auftraggeber und potenzielle Opfer – erwähnt, außerdem mehrere Dutzend sogenannter Soldaten: das Personal für die Killerkommandos. Unter den 70 Personen soll sich auch der Name Marco Marmo, eines der Opfer von Duisburg, befinden.
Ihn verdächtigt die Polizei, die Waffen für den einstigen »Weihnachtsmord« an Maria Strangio, der Frau des Bosses Giovanni Nirta, besorgt zu haben. Doch mittlerweile vermuten die Carabinieri, dass Marmo nicht nur aus Rachegründen ermordet, sondern präventiv beseitigt worden sein könnte. Es gibt nämlich Hinweise, dass Marmo in Deutschland auf Einkaufstour für weitere Waffen war. Sollten sich diese Hinweise bestätigen, ist die Mär vom »Rückzugs- und Ruheraum« Deutschland dahin. Vielmehr wäre es damit wohl zum offenen Operationsgebiet avanciert.\’Ndrangheta ist heute die Mächtigste
»Für mich ist der Anschlag in Deutschland keine Überraschung. Die \’Ndrangheta ist gegenwärtig die mächtigste kriminelle Organisation weltweit. Sie hat sich gegen die anderen Mafien – russische, albanische, auch deutsche – durchgesetzt. In Deutschland setzte sie sich vor allem seit dem Mauerfall fest. Sie nutzte die günstigen Gelegenheiten zur Geldwäsche und kaufte in manchen Städten ganze Quartiere auf«, stellt Pino Masciari gegenüber dieser Zeitung fest.
Der Bauunternehmer aus dem kalabresischen Serra San Bruno hat sich in den 90er Jahren gegen die \’Ndrangheta gestellt. Er hat sich geweigert, den »Pizzo«, das Schutzgeld zu zahlen. Er hat seine Erpresser angezeigt, unter ihnen auch Mitarbeiter der Behörden, die für öffentliche Bauten eine weitere »Provision« vom Unternehmer gefordert hatten. Masciari hatte versucht, mit seinem Geschäft nach Europa zu entkommen. Doch wohin er auch kam, immer schon war jemand von der Mafia da. Nicht immer als Erpresser, sondern auch schlicht als Geschäftskonkurrent, der dem Landsmann mitunter sogar Zusammenarbeit anboten. Masciari schildert: »Auf einer Baustelle in Dresden sind mir Investoren der Camorra begegnet. In Dessau hat man mir ein todsicheres Verfahren zur Geldwäsche angeboten.«
Vor über zehn Jahren wurde der Bauunternehmer Masciari von nachweislich korrupten Behörden seiner Heimatprovinz in den Ruin getrieben. Führende Mafiosi und einfache Erpresser sowie deren Komplizen in Politik, Verwaltung, Privatwirtschaft und auch in der Justiz sind aufgrund seiner Aussagen ins Gefängnis gekommen. Er reist durch ganz Italien, um mit der Überzeugungskraft seiner Person und der Relevanz seiner Biografie zum Kampf gegen die Mafia zu mobilisieren. »Der Staat muss härter durchgreifen«, lautet sein Appell. Wer zu langen Gefängnisstrafen verurteilt wird, müsse diese auch absitzen. »Viele, die zu zehn, zwanzig Jahren verurteilt wurden, kommen nach drei, vier Jahren wieder heraus. Das ist keine Abschreckung«, meint er und setzt nach: »In Italien ist gegenwärtig die Demokratie bedroht.«
Von seinem derzeit geheimen Wohnort aus beobachtet er auch die Vorgänge in seiner einstigen ökonomischen Heimat Deutschland. »Es ist alarmierend, was dort passiert. Die \’Ndrangheta glaubt offensichtlich, sich alles herausnehmen zu können, was sie will.« Masciaris Ferndiagnose wird von bisherigen Ermittlungsergebnissen erhärtet. Bis zu zehn Personen sollen in Duisburg in der Nacht zum 15. August in unmittelbarer Nähe der Pizzeria »Da Bruno« gewesen sein, darunter auch einige hochgestellte Familienmitglieder des Strangio-Nirta-Clans. Sie wollten sich, so lautet eine Hypothese, vom Gelingen der Aktion überzeugen. Über das Ausmaß der Verbreitung der \’Ndrangheta in Deutschland gibt es bislang nur wenige handfeste Fakten.
Ein Goldschatz in dieser Hinsicht, aus dem nur hin und wieder einige Körner fallen, sind die Unterlagen der »Operation Lukas«. Benannt wurde sie nach dem Herkunftsort von Opfern und wahrscheinlich auch Tätern der Mordtat von Duisburg, durchgeführt bereits 2001, gemeinsam von Beamten des BKA und kalabresischen Fahndern. Sie soll eine Karte enthalten, in der mafiaverdächtige Unternehmen und Immobilien in ganz Deutschland verzeichnet sind. Genannt sind nach Recherchen der italienischen Repubblica Städte wie Duisburg und Bochum, Erfurt und Leipzig.
Ins alte Industrierevier des Westens ergoss sich seit den 50er Jahren ein Einwandererstrom aus Süditalien. Darunter viele Kalabreser, viele, die der Armut entfliehen wollten, viele auch, die die Bevormundung durch die Clans satt hatten und mit ihrer Hände Arbeit ein selbstbewusstes Leben gründen wollten. Eine bittere Ironie der Geschichte scheint nun, dass in der italienischen Community Mafiosi spielerisch leicht untertauchen und mit ihren Geldern für Respekt sorgen können.
Die Entwicklung im Osten hat Masciari aus eigenem Erleben erfahren. »In den 90er Jahren war hier jedes Geld willkommen. Niemand hat gefragt, woher es kam. Um ihr Geld zu waschen, konnte sich die Mafia deutscher Strohmänner bedienen«, sagt er. Für ihn steht fest: Neun von zehn aller nach dem Mauerfall von Kalabresen gegründeten Pizzerien und Ristorantes in Deutschland sind Geldwaschmaschinen; der größte Teil davon befindet sich in Ostdeutschland. Aber auch in größeren Unternehmen, selbst in Weltkonzernen soll Geld der \’Ndrangheta stecken.
Diese Mafia gilt derzeit als die dynamischste Verbrecherorganisation. Beispielsweise ist sie nicht so stark zersplittert wie die neapolitanische Camorra, deren interner Krieg seit zehn Jahren Ermittler und Journalisten, Notärzte und Gefängniswärter zu Sonderschichten zwingt. Andererseits ist sie nicht so starr und hierarchisch organisiert wie die sizilianische Cosa Nostra.Erst Giftmüll, dann Frankfurter Börse
Bis in die 80er Jahre galt die \’Ndrangheta als Feierabendgemeinschaft von Schäfern und Schmugglern, die sich ein Zubrot durch Entführungen besorgten. Ihre Gewalttätigkeit blieb lokal begrenzt. Doch dann »entdeckte« sie das Giftmüllgeschäft. Anfangs wurden die Konvois – darunter verstrahlte Materialien – nach Somalia verbracht, später wurde alles gleich auf See verklappt. Mit dabei waren die jetzt verfeindeten Clans Strangio-Nirta und die Pelle-Romeo aus San Luca. In die logistische Feinarbeit sollen türkische Gangs eingebunden gewesen sein. Die dabei geknüpften Kontakte führten schließlich zum Einstieg in den Drogenhandel.
Die Geldmengen, die die \’Ndrangheta umsetzt, sind enorm. Schätzungen liegen bei 35 Milliarden Euro in jedem der beiden letzten Jahre. Wie sehr die \’Ndrangheta im Geld badet, illustrierte kürzlich Italiens Vize-Innenminister Marco Minniti: »Unlängst sind wir auf eine Ndrina (Organisationseinheit der \’Ndrangheta – d.A.) gestoßen, die Geld verstecken wollte. Es handelte sich um einen Eimer mit fünf Millionen Euro. Der Junge, der den einmauerte, hatte geschlampt, und der Mörtel zerfraß die Scheine. Er war entsetzt und dachte, er würde an Ort und Stelle erschossen. Doch sein Boss soll ihm gesagt haben: »Sohn, sorge dich nicht. Das Geld kommt und geht, und es kommt wieder.«
Ein BND-Bericht aus dem Jahr 2006 vermerkt, dass die Organisation sich an der Frankfurter Börse massiv in internationale Energiefirmen eingekauft hätte, u.a. in den russischen Multi Gazprom. Der wiederum hat seinen symbolischen Sitz derzeit im Herzen des Ruhrgebiets, nämlich direkt auf den blauen Trikots von Schalke 04. Und von Gelsenkirchen bis Duisburg ist es nur ein sprichwörtlicher Katzensprung.
Weiter ohne heiße Spur
Nach den Mafia-Morden in Duisburg hat die Polizei gestern in mehreren deutschen Städten Durchsuchungen mit Schwerpunkt Nordrhein-Westfalen vorgenommen. Die sicher gestellten Gegenständen würden ausgewertet, sagte ein Polizeisprecher. Eine heiße Spur zu den Tätern gebe es nicht. Bei der gestrigen Polizeiaktion sei auch niemand festgenommen worden. AFP/ND